Richterinnen und Richter fügen ihren Urteilen gelegentlich obiter dicta bei, weil sich sonst für sie häufig auf lange Zeit keine Möglichkeit mehr bietet, ihre Rechtsauffassung zu ähnlich gelagerten Fällen oder zu einem Grundsatz, der zwar für den Fall keine Rolle spielt, ihnen aber wichtig erscheint, kundzutun. Obiter dicta sind nicht unumstritten, zum einen aus methodischen Gründen, weil der juristische Stil dem Rasiermesser Ockhams genügen soll, zum anderen wegen des Gewaltenteilungsgrundsatzes, der den Gerichten gebietet, ausschließlich den ihnen vorgelegten Fall zu entscheiden. Allerdings können obiter dicta auch hilfreich sein, z. B. wenn in einem Bereich seit langem eine gefestigte Rechtsprechung besteht, so dass keine Klagen mehr eingereicht werden, weil diese nur dann erfolgreich wären, wenn eine geänderte Rechtsauffassung gelten würde. Obiter dicta können hier dazu dienen, die Rechtsprechung nochmals zu bekräftigen und etwa gegen neuere Kritik in der rechtswissenschaftlichen Literatur zu verteidigen. Sie können umgekehrt aber auch das Vertrauen in eine gefestigt erscheinende Rechtsprechung lockern und potenziellen Klägerinnen und Klägern, die wegen der bisher festgefügten Rechtsprechung stillhalten, ebenso wie den Untergerichten eine geänderte Rechtsauffassung (oder die Bereitschaft, über eine solche nachzudenken) signalisieren. Kommen dann durch die Ermutigung zu klagen neue Fälle auf die Schreibtische der Richterinnen und Richter, können sie die Aussagen des vorangegangen obiter dictum nunmehr als ratio decidendi in den Entscheidungsgründen niederlegen (und sie ggf. auch fallbezogen nachschärfen) und so die im obiter dictum geäußerte Rechtsmeinung mit faktischer Bindungswirkung für die Untergerichte ausstatten (und im Fall des Bundesverfassungsgerichts sogar mit rechtlicher Bindungswirkung [vgl. § 31 Abs. 2 BVerfGG]).
DOI: | https://doi.org/10.37307/j.1864-8029.2022.04.03 |
Lizenz: | ESV-Lizenz |
ISSN: | 1864-8029 |
Ausgabe / Jahr: | 4 / 2022 |
Veröffentlicht: | 2022-04-01 |
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